Es ist so geil, weil es so einfach ist: Man nehme weinende Kinder, dürre Frauen und weiße ErlöserInnen und bekommt Spenden. Wir SpendensammlerInnen müssen uns trotzdem endgültig von Elendsbildern enthalten und mutig bessere gute Geschichten erzählen.
Ich gestehe, ich habe es auch getan. Unzählige Male in den vergangenen Jahren. Als Redakteur für Hilfsorganisationen und NGOs habe ich Geschichten geschrieben, Fotos geschossen und Videos gedreht, die bestmöglich Mitleid erwecken sollten. Geschichten über arme, arme Kinderlein, die jetzt rasch Hilfe brauchen, liebe Spenderin, lieber Spender. Kinder, die hungern, frieren oder arbeiten müssen, anstatt in die Schule gehen zu können. Frauen und Männer, die ohne Hilfe nicht Überleben können. Bilder der Not in Äthiopien, des Elends in Syrien oder der Hilfsbedürftigkeit in Albanien. Geschichten über HilfsempfängerInnen. Mir reicht das längst nicht mehr.
Ich habe genug von diesem Poverty Porn. Ich werde grantig, wenn mir halbnackte, schwarze, namenlose Kinder von Plakaten entgegen weinen. Oder wenn in Video-Clips Eltern und Kinder nur stumm in die Kamera blicken, während ein Erzähler die SeherInnen zum Spenden aufruft (und dazu traurige Klaviermusik dudelt). Und wenn mich weiße Leinwandberühmtheiten aus einer bedürftigen Kinderschar heraus anlachen oder Promis mir erzählen, wie sie Leben retten, dann haut es mir – auf gut Wienerisch – die Kabel raus.
Aber von Anfang an.
Poverty Porn? Was ist das?
Was
Sind wir uns ehrlich, das fühlt sich schon gut an, oder? Ein bisschen Allmachts- und ErlöserInnenfantasie macht den Poverty Porn gleich noch ein wenig geiler.
Fundraising mit Stereotypen: Haben wir doch immer schon so gemacht
Es ist nicht zu leugnen: Viele spendensammelnde Organisationen sind groß im Poverty-Porn-Business. Die einen produzieren hard-core Material, die anderen die softere Variante. Warum sie im Fundraising auf Poverty Porn setzen? Weil diese Methode zu funktionieren scheint – sprich: Spenden bringt. Und: weil es ganz einfach immer schon so gemacht wurde. Dabei ist vielen Hilfsorganisationen bewusst, dass sie mit ihrer Spendenwerbung oft genau jene Stereotypen bedienen, die sie mit ihrer Arbeit bekämpfen wollen. “Natürlich wissen sie, dass die Lage komplexer ist, aber sie wissen nicht immer, wie sie langfristige Hilfsprojekte finanzieren sollen. Also tun sie das, was schon lange funktioniert”, schreibt Dagmar Dehmer mit Blick auf den deutschen Spendenmarkt.
Logisch, alle wollen Aufmerksamkeit für die gute Sache und möglichst viele Spenden, um zu helfen. (Und diese Sache ist wirklich eine gute und Hilfe tatsächlich wirksam und notwendig.) Klar ist aber auch: viele FundraiserInnen würden dem Poverty Porn lieber abschwören. Und trotzdem scheinen sich in der Diskussion oft VertreterInnen der Fraktion “mehr Dramatik, mehr Dringlichkeit, mehr ausgemergelte Körper, mehr Kindertränen” durchzusetzen.
Nicht zu vergessen, dass Kampagnen die Ursachen von Armut, die eng mit Europa und dem Westen verknüpft sind, weitgehend ausblenden, wie auch Wissenschaftlerin Nadja Ofuatey-Alazard feststellt. Stichwort: Sklavenhandel, Kolonialismus, ungerechten Handelsbeziehungen, westliche Lebensweise. Hilfsorganisationen verteidigen sich dann mit dem Argument, dass Zusammenhänge zu komplex seien, um sie auf Plakaten, Fotos und in Kurztexten zu thematisieren. Dazu kommt die Angst, dass es die Spendenbereitschaft gefährden würde, unser Handeln als KonsumentInnen oder WählerInnen in Frage zu stellen und die scheuen SpenderInnen damit auf ihre Mitverantwortung an globalen Entwicklungen hinzuweisen.
Über Machtverhältnisse und Opferrollen
Poverty Porn
Linda Raftree geht es bei Poverty Porn sowieso um mehr als unseren Blick auf Menschen im Süden: “Poverty porn does not only have to do with the way the West views Africa, it is an expression of classism that appears wherever those with more are helping those with less. By changing the way we manage media, we can affect the way stereotypes proliferate. Here’s a taste of a debate that will surely continue as conservative thinkers react skeptically or defensively to the prospect of progress and equality of voice from those who are viewed historically as less.”
Mut zur Tiefe: trauen wir uns!
Spendensammelnde Organisationen – und damit die jeweiligen EntscheiderInnen, SchreiberInnen, Foto- und VideografInnen und GeschichtenerzählerInnen – müssen Stereotype und poverty-pornöse Botschaften erkennen und eliminieren. Oft müssten sie dabei nur den eigenen Werten und Visionen folgen und diesen hohen Standards auch in ihrer Kommunikation mit den SpenderInnen gerecht werden.
Wir wissen, dass viele SpenderInnen ebenfalls die Nase voll haben von permanentem Alarmismus und Elendsbildern. Und ich glaube, wir können den UnterstützerInnen mehr zumuten. Das heißt keinesfalls, weichgespülte Gute-Laune-Geschichten zu erzählen. Wir können sie einladen, tiefer zu blicken, Hintergründe zu erkennen und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Obacht: LeserInnen und SeherInnen können Facettenreichtum tatsächlich vertragen!
Echte Menschen, gute Geschichten!
Geschichten sollen emotional berühren. Aber sie sollen auch ermutigen und Menschen wirklich miteinander in Verbindung bringen. Die vielbeschworene Methode des Storytellings funktioniert: nur über konkrete Geschichten, werden wir wirklich empathisch und nur die kleine Geschichte lässt uns große Zusammenhänge nachhaltig begreifen. Dabei muss es aber unsere Aufgabe sein, überzeugende Geschichten von echten Menschen zu erzählen, ohne deren Leben zu trivialisieren und zu stereotypisieren. Wir müssen Menschen als jene handelnden AkteurInnen zeigen, die sie sind. Dabei darf der eigene Beitrag, also die (fraglos wichtige) Arbeit der Organisation, getrost dorthin rücken, wo er hingehört: in den Hintergrund.
Das Rezept ist noch einfacher, als beim geilsten Poverty Porn: Wir müssen echte Menschen zeigen. Und “echt” meint, in ihrer Gesamtheit, mit allen Facetten und Rollen. Mütter und Väter, die alles erdenkliche machen, um ihre Familie zu ernähren, Kinder, die stundenlange Schulwege auf sich nehmen, um in der nächsten Dorfschule lernen zu können (Filmtipp zur Inspiration: “Auf dem Weg zur Schule” von Pascal Plisson) oder allen Widrigkeiten trotzende KleinbäuerInnen und UnternehmerInnen, die Vorbilder für ganze Gemeinschaften werden. Wir müssen die enorme Widerstandskraft, den unbändigen Überlebenswillen und die Zufriedenheit, die Menschen auch unter schwierigsten Umständen an den Tag legen, zeigen. Und genauso müssen wir zeigen, dass Menschen die Hilfe, die mal lebensrettend, mal zukunftsprägend ist, in Anspruch nehmen und wie gut diese Hilfe wirkt.
Immer sollen Menschen ihre Geschichten selbst erzählen können. Und wir müssen es als Privileg verstehen, diese Geschichten weitererzählen zu dürfen. Für mich heißt das: ich muss bessere Arbeit leisten. Wir brauchen schlicht bessere Bilder und bessere Geschichten. Ja, dafür muss man öfter den Schreibtisch verlassen. Ja, dafür braucht es intensivere Recherche. Ja, dafür muss man mehr Zeit mit den Menschen verbringen. Richtige Gespräche statt Interview-Überfälle im Blitzlichtgewitter. Wir brauchen Mut, die ganzen Geschichten weiterzuerzählen. Denn nur dann sind es bessere gute Geschichten. Und nur das sollte uns reichen.
Gibt es valide Zahlen, die die Wirksamkeit guter Geschichten abseits von Poverty Porn belegen? Wo müssen wir unsere Sprache grundsätzlich überdenken? Wie wirkt Storytelling im Fundraising? Was kann man sich beim konstruktiven Journalismus abschauen? Welche Darstellungsformen sind wofür besser geeignet? Was tun gegen Psychic Numbing? Welche Best- & Worst-Practice Beispiele gibt es? uvm. – ab sofort wird es hier zum Thema Content- und Storytelling im NGO-Kontext regelmäßig etwas zu lesen geben.
Interessiert? Einfach auf Twitter, FB oder IG über neue Beiträge informieren.