Ich war vorbereitet. Ich hatte mir Gedanken gemacht. Geistreiche Anspielungen, humorvolle Anekdoten, eine Prise Sarkasmus, feine Dramaturgie und elegante Überleitungen. Ich hatte mir Zeit genommen. Ja, letztendlich war ich zufrieden, mit meiner Rede als Trauzeuge. Und dann, unter der stechenden Nachmittagssonne, vor dem händchenhaltenden Brautpaar, in 70 schwitzende und fächerschwingende Gesichter blickend, habe ich das Manuskript, ohne es eines Blickes zu würdigen, einfach wieder zurück in die Brusttasche meines Sakkos gesteckt und gesagt, was wirklich zu sagen war.
Rückblick: Ein paar Monate zuvor hatte mich C., einer meiner besten Freunde, gefragt, ob ich denn sein Trauzeuge sein will. Ich war überrascht, fühlte mich geehrt und freute mich sehr. Ich sagte zu. Selbstverständlich. Meine überschaubaren Aufgaben als Trauzeuge: Polterabend organisieren, bei der Hochzeit anwesend und für den Bräutigam da sein.
Aus dem Polterabend wurde schließlich ein Polterwochende, aus Monaten bis zum Hochzeitstag Wochen. Zwei, drei Wochen vor der Bezeugung des Eheversprechens bekam ich einen Anruf von Cs Mutter. Sie wollte den Ablauf mit mir besprechen. Im Rahmen der Zeremonie sollten Wünsche an das Brautpaar (Warum heißt es eigentlich Brautpaar?) formuliert werden. Die Eltern, die Geschwister und eben die Trauzeugen sollten ihre Wünsche an die Frischvermählten vor der Festgemeinde kundtun. Bräutigammutter und -vater würden aus ihrer langjährigen Ehe berichten und aus schönen Erfahrungen Wünsche ableiten. Die Trauzeugin der Braut, gleichzeitig deren Schwester, würde mit den Worten “Du hast recht” enden. Dann wäre ich an der Reihe. So weit die telefonische Auskunft vor der Hochzeit.
Kein Problem, mache ich gerne. Da wird mir schon etwas einfallen. Ich vermittelte Zuversicht. Und schob die Vorbereitung auf diese Ansprache auf. Bis ich schließlich ein paar Tage vor dem Hochzeitstag ein Dokument mit dem Arbeitstitel “Wünsche an das Brautpaar” erstellte und erste Ideen in die Tastatur klopfte. Und die Ideen, sie kamen spärlich.
Was macht man, wenn man nicht weiß, was man schreiben soll? Richtig: Man schreibt darüber, dass man nicht weiß, was man schreiben soll. Jedenfalls war das mein Ansatz und Ausgangspunkt für die Rede. Der Inhalt der Ansprache ist nebensächlich, nur so viel: Ich hätte Großmüttern, Nichten und Freundesfreunden von Oscar Wildes Auffassung von der Institution Ehe, von Ozzy Osbournes Geheimrezept für eine erfüllte Partnerschaft und vom Zusammenhang zwischen der beachtlichen Ausprägung der primären Geschlechtsmerkmale der Erpel und der Treue in Entenbeziehungen berichtet. (Tatsächlich, ich hätte von Entenpenissen gesprochen.) So oder so, die Hochzeitsgesellschaft sollte sehen, wie schlau ich bin, wie wortgewandt und witzig und trotzdem emotional. Die beste Rede aller Zeiten. Ein schlauer Fuchs, der Schauhuber. So hatte ich mir das ausgemalt.
Am Tag der Hochzeit hatte ich die Rede ausgedruckt und nochmals in Unterhose auf der Wohnzimmerbühne unter skeptischen Hundeblicken den Ernstfall geprobt. Dann habe ich den Zettel eingepackt und bin losgefahren zum Bräutigam. Und dann vor Ort, in einem weitläufigen Garten mit weißem Pavillon, Minuten vor Beginn der Zeremonie, sagt mir Cs Mutter, dass die Ansprachen kurz sein müssen. Also richtig kurz, eher Sekunden, als Minuten, kurz. Gleich war mir klar, der Zettel in meiner Brusttasche ist deutlich zu dicht bedruckt, die Rede viel zu lange. Fidelcastrolänge, im Vergleich zum Geforderten. Doch für Änderungen war es zu spät, denn schon ging es los.
Mit zittrigen Stimmen beginnen also die Mütter und Väter mit den besten Wünschen für ihre erwachsenen Kinder. Gerührte Stille, Applaus. Ich selbst kann kaum folgen, mein Hirn versucht die Rede einzudampfen. Was soll ich weglassen? Welchen Teil kann ich auslassen, damit die Anspielung später noch funktioniert? Dann sind die Geschwister an der Reihe. Links von mir der ältere Bruder des Bräutigams mit einer lustigen Anekdote. Glaube ich, denn ich bekomme kaum mit, was er sagt. Mein Hirn verarbeitet keine Sinneseindrücke mehr, alle Rechenleistung wird für den Redenumbau verwendet. Gelächter, Schluchzen, Applaus. Dann der andere Bruder zu meiner Linken. Aus dem Augenwinkel erkenne ich zwei drei längere Sätze auf dem kleinen Stück Papier in seinen Händen. Es ist ein Gedicht. Mittendrin bricht die Stimme und er in Tränen aus. Alle weinen mit, großer Applaus. Es folgt die Trauzeugin der Braut. Und ich stoppe das Unterfangen Rede-Neu. Endgültig. Ich bin an der Reihe.
Ich blicke zu Braut und Bräutigam, Hand in Hand und feuchtäugig, schaue nach hinten zu meiner Liebsten, lachend und meinen Blick erwidernd, und weiß plötzlich, was ich zu sagen habe, was die Essenz der vorbereiteten Rede ist.
Eigentlich wusste ich das bereits, als ich begann, die Ansprache zu schreiben. Unter der stechenden Sonne, vor Brautpaar und Festgemeinde, den Zettel mit schwitzigen Fingern wieder weggepackt, sage ich, dass ich C. schon seit Jahrzehnten kenne. Dass ich ihn nie glücklicher erlebt hätte, als mit A. Dass wenn er mir erzählt, wie es A. geht, was sie macht, dass wenn er darüber spricht, wie sie gemeinsam Haus planen und bauen oder wie sie zusammen über den Namen ihres Kindes nachdenken, ich weiß, dass es passt. (Gerne hätte ich erzählt, dass wenn ich sehe, wie er sich über die Nachricht von A. freut, die sie ihm heimlich in den Koffer für das Polterwochenende gesteckt hat, ich weiß, dass es einfach passt zwischen den beiden. Ich war aber selbst zu ergriffen, als das mir dieser Satz eingefallen wäre.) Also, sage ich schließlich vor den mehr als 70 Fächerschwingern, was soll schon schief gehen. Ich hole tief Luft und sage, dass mir nichts anderes bleibe, als A. und C. von ganzem Herzen alles, alles Gute zu wünschen.
Geistreich, eloquent, witzig – manchmal ist das alles nur Makulatur. Denn manchmal geht es nicht ums Wirken nach Außen, sondern bloß um die Wirkung nach innen. Manchmal geht es nicht um mich oder darum, wie ich glaube auf Andere zu wirken, sondern schlicht darum zu sagen, was ich spüre. Manchmal ist das der einzige Weg, wirklich etwas zu sagen.
Was für Hochzeitsansprachen gilt, gilt auch im richtigen Leben und mitunter für meine Schreibe. Manchmal braucht es mehr schlichte Offenheit statt vorgeschobene Souveränität. Herzwerk statt Hirnprodukt. Es gilt zu sagen und zu schreiben, was wirklich zu sagen und zu schreiben ist. Ich bin vorbereitet.