Kurvig windet sich die schmale Straße raus aus Malko Tarnovo, die bewaldeten Hügel hinauf. Die kleinen Häuser und Hütten bleiben hinter uns. Das 3000-Seelen-Dorf am südöstlichsten Zipfel Bulgariens liegt nur ein paar Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Grenzdorf im Nirgendwo, das Ende Europas. EU-Außengrenze also – oft ist von ihr dieser Tage zu lesen. Vor zwei Wochen war ich vor Ort, saß mit JournalistInnen im Kleinbus Richtung Grenzübergang.
Unser Bus folgte einem alten VW Polo. In diesem Auto saß Sveta. Als Krankenschwester pflegt die resolute Frau die Kranken, die Alten, in ihrer Heimatgemeinde. Minuten zuvor hatten wir Sveta im halbverfallenen Krankenhaus von Malko Tarnovo abgeholt. Mehr Abbruch- als Krankenhaus nutzen Sveta und ihre KollegInnen zwei kleinen Räume als Lager und Büro. Die kleine Mittsechzigerin hat nämlich noch einen Zweitjob: Sie kümmert sich um Flüchtende, die in den Wäldern im Grenzgebiet aufgegriffen werden. An diesem Tag sollte Sveta unsere Kontaktperson zu den bulgarischen Grenzbeamten sein.
Von den Fluchtbewegungen die Europa seit Monaten in Atem halten ist auch Bulgarien, das ärmste Land der Europäischen Union, betroffen. Zwar liegt Bulgarien (derzeit) nicht auf der bevorzugten Route der Flüchtenden, teilt sich aber eine 260 Kilometerlange Grenze mit der Türkei. Hier in der unwegsamen Bergregion von Malko Tarnovo im Südosten Bulgariens überschreiten die Menschen nach tage-, wochen-, oder monatelanger Flucht die Grenze zu Europa, auch im Winter bei eisigen Temperaturen.
Svetas Regierung in Sofia hat deswegen begonnen einen Zaun zu bauen. NATO-Stacheldraht soll die Schutzsuchenden abhalten. Die Menschen kommen natürlich trotzdem. 20 bis 30 sind es jeden Tag. Zaun hin oder her. Werden die SyrerInnen, IrakerInnen, dann von der Polizei aufgegriffen, werden Sveta und ihre KollegInnen gerufen. Sie versorgen die Erschöpften mit dem Notwendigsten – Essen, Kleidung und Medikamenten. Sveta kennt die Grenzbeamten gut. Wir dürfen deshalb den Grenzübergang besichtigen und den Schilderungen der Flüchtlingshelferin direkt am Schlagbaum lauschen.
Zaungäste
Richtung Türkei fahren wir an schneebedeckten Gitterstapeln und dutzenden Stacheldrahtrollen vorbei. Baumaterial liegt hier am Straßenrand, ein Bagger walzt durchs Bankett und verschwindet im Wald. Hinter einer weiteren Kurve dann schließlich der Grenzübergang. Wagen und Bus halten in einiger Entfernung. Sveta steigt aus und geht zur Grenzstation. Sie schüttelt Hänge, diskutiert. Die Grenzpolizisten deuten in unsere Richtung. Doch keine Grenzbesichtigung? Wird es den Polizisten doch zu heiß? Sveta gestikuliert und kommt nach einigen Minuten wieder zum Bus zurück. Mit guten Nachrichten: Wir können tatsächlich bis zum Grenzübergang gehen. Aber nur kurz und auf gar keinen Fall Fotos, übersetzt die Dolmetscherin. Sveta ist angespannt, die Diskussion war offenbar kompliziert.
Nach ein paar Augenblicken in der Kälte vor dem Bus kommt ein Grenzpolizist schnellen Schrittes auf uns zu und warnt nochmals eindrücklich: Fotografieren strengstens verboten. Und keine Fragen an ihn oder seine Kollegen. Fragen ausschließlich an Sveta. Ton und Körpersprachen lassen keinen Zweifel: wir sind Eindringlinge, unerwünscht. Ein paar abschließende, schroffe Worte an unsere Verbindungsfrau, dann macht der junge Mann am Absatz kehrt und marschiert los. Wir folgen. Und werden verfolgt. Von einer abgemagerten Hündin, die uns aus ein paar Metern Abstand, ängstlich beäugt. Mehr tot als lebendig hofft das arme Wesen hier bei der Grenzstation Fressbares zu finden, um die nächsten Tage zu überstehen.
Der Grenzschranken befindet sich ganz oben auf der Hügelkuppe. Schön Willkommen in Bulgarien, begrüßt ein Schild die Einreisenden. Eisiger Wind pfeift durch den drei Meter hohen, doppelreihigen Grenzzaun. Der Wind kriecht auch dem Grenzsoldaten unter den dicken Mantel und dringt in die Ritzen seiner Gesichtsmaske. Mit Sturmgewehr und Helm patrolliert der Vermummte hier am Hügel im bulgarisch-türkischen Nirgendwo. Und hofft, dass bald die Ablöse kommt und er seine klammen Hände wieder aufwärmen, heißen Kaffee trinken und eine Zigarette rauchen kann. Bevor es wieder hinausgeht zum stummen Kollegen Zaun, zur Bewachung des Abendlandes.
Der Eiswind verweht Svetas Worte. Ich kann ihren Erzählungen aber ohnehin nicht folgen. Ein paar hundert Meter weiter wehen rote Fahnen mit Mondstern, beginnt die Türkei. Wald und Hügelland soweit das Auge reicht. Ich versuche mir vorzustellen, wie es sein muss, mit Kindern hier in der Kälte durch Schnee und Matsch zu stapfen und durchs Unterholz zu stolpern. Den ganzen Besitz am Leib und im Rucksack. Immer die Angst im Nacken von der Grenzpolizei erwischt zu werden. Wie muss es sein, wenn dich Schlepper irgendwo hier im Wald aussetzen? Mit wagen Richtungsangaben und Hinweisen, wo die Grenze zu am Leichtesten zu überqueren sei.
Ein Auto nähert sich dem Schlagbaum aus der Türkei kommend und reißt mich aus den Gedanken. Nichts ist los, an diesem verlassenen Grenzübergang. Nur ein weiterer Wagen passiert während unseres Besuchs die Grenze. Sveta schildert derweil mit gedrückter Stimme. Erzählt von Bewegungsmeldern, Bodenradar und Wärmebildkameras. Und vom Superzaun, bislang nur knapp 30 Kilometer, soll dieser bald 160 Kilometer lang sein. Mein Europa will es so.
Willkommen in Europa
Hier an der Außengrenze ebendieser meiner EU ist das Wilkommen für die Flüchtenden doch nicht so schön, wie das Schild verspricht. Menschenrechtler berichten regelmäßig über entwürdigenden Szenen und Gewalt gegen Flüchtlinge. Ja, es gibt Gewalt gegen Flüchtlinge, bestätigt auch die Leiterin der Flüchtlingsabteilung der Menschenrechtsorganisation Helsinki Committee am Tag nach dem Grenzbesuch. Die Grenzpolizisten prügeln und berauben die Ankommenden. Und schieben sie gegen ihren Willen wieder in die Türkei ab. „Push-Back“ nennt das die Fachfrau. Das Recht auf Asyl ist hier oft mehr Handlungsempfehlung, denn Menschenrecht.
Oben auf dem Grenzhügel bei Zaun, Stacheldraht und Sturmgewehr sagt Sveta, dass die Soldaten und Grenzpolizisten die Flüchtlinge gut behandeln, besonders die Kinder. Direkten Zugang zu den Flüchtlingen haben die Helferinnen und Helfer aber nicht. Sveta erzählt davon, wie sie die Grenzpolizei endlich dazu gebracht hat, dass sie – natürlich inoffiziell – angerufen wird, wenn wieder Flüchtlinge aufgegriffen werden. Werden die Schutzsuchenden gefasst, kommen sie zunächst für 24 Stunden in die ehemalige Kaserne in Malko Tarnovo. Offiziell dürfen die Polizisten keine Kleidung oder Lebensmittel für die Flüchtlinge annehmen und weitergeben. Hier funktioniere es dennoch. Würden wir offiziell als Partner anerkannt werden, könnten wir noch besser zusammenarbeiten, will die Krankenschwester weiter hoffen.
Der Rezovo, Grenzfluss zwischen Bulgarien und der Türkei, ist derzeit nur bis zu 15 Zentimeter tief, weiß Sveta auf die Frage nach Übertrittsmöglichkeiten. Das wissen auch die Schlepper. Und die Grenzpolizei. Unser Bewacher lauscht Svetas Worten und beobachtet uns argwöhnisch. Breitbeinig steht er da. Was muss er sich denken? Arbeit und damit ein Auskommen zu finden ist schwer in Bulgarien. Sicher hat er Angst, dass ihn die Berichte ausländischer Journalisten den Job kosten könnten. Ich kann seine Skepsis verstehen. Und klar werden vertohlen die Smartphones gezückt und Zaunfotos geschossen. Nach ein paar Minuten wird der Mann immer ungeduldiger. Es reicht, wir müssen gehen.
Gelangweilt lehnen die anderen Grenzbeamten unter dem Vordach der Station, während wir an ihnen vorbei, zurück zum Bus gehen. Größere Reisegruppen, auf die sie des Öfteren treffen, kommen normalerweise nicht aus Mitteleuropa, sondern aus dem Nahen Osten. Und diese Reisenden spazieren auch nicht einfach so durch die Grenzstation. Sveta schüttelt wieder Hände, verabschiedet sich. Man wird ohnehin bald wieder telefonieren. Wir lassen die Grenzkälte hinter uns, verkriechen uns im Bus und fahren den Hügel wieder hinunter nach Malko Tarnovo.
Heute sitze ich im 1400 Kilometer entfernten Wien und lese die folgende Nachricht: Zwei Flüchtlinge nahe der Stadt Malko Tarnovo erfroren. 19 Menschen, darunter elf Kinder, sind über die Hügel durch den Schnee gestapft. Schlepper hatten die Gruppe im Grenzgebiet zurückgelassen. Für zwei Frauen war die Kälte zu viel, die Strapazen zu groß. Zwei Frauen erfrieren. Die Überlebenden wurden ins Krankenhaus gebracht. Die Kinder haben Erfrierungen, zwei weitere Erwachsene kämpfen um ihr Leben.
Kniehoch liegt Schnee hier zwischen den Bäumen am Rande Europas. Hier habe ich ein warmes Mittagessen im Dorfgasthof verspeist. Hier habe ich aus dem warmen Bus in die kalte Weite gestarrt. In meiner teurer Jacke, die dicke Haube am Kopf, habe ich auf diesem Dreckshügel bei Malko Tarnovo schon nach ein paar Minuten gefroren. Und irgendwo dort, im Nirgendwo, sind jetzt zwei Menschen gestorben. Vielleicht hat die gute Sveta auch diesmal einen Anruf bekommen – vielleicht auch nicht. Für zwei Menschen auf der Suche nach einem Leben in Sicherheit, ein Leben mit Perspektive, kam Hilfe jedenfalls zu spät.
Ja, so sieht es aus, das Ende Europas.