Stell dir vor, es ist Krieg in deinem Land. Polizisten haben dich bereits dreimal geholt und ins Gefängnis geworfen. Unter Folter haben sie versucht, Namen von dir zu erfahren. Die Angst um deine Frau und deine zwei Kinder neben der körperlichen Qual unträglich. Erst nach Tagen der Misshandlungen, der Ungewissheit und Todesangst lassen sie dich wieder laufen. Seither schmerzt dein Rücken, an schlechten Tagen kannst du dich kaum rühren. Deine Brüder wurden ebenfalls festgenommen. Du hast keine Ahnung wo sie sind, ob sie noch leben.
Eines Tages ist der Krieg, sind die Kämpfe, die Schüsse und Bomben in deiner Stadt angekommen. Helikopter fliegen über die Dächer. Über die Schule deiner Kinder, deinen Laden, den Markt, die Parks. Wenn ein Helikopter über dein Haus fliegt, halten alle die Luft an. Jeden Augenblick kann die Bombe in deinem Garten oder im Wohnzimmer deiner Bekannten detonieren. Diese Angst ist schrecklich. Immer häufiger werden die Explosionen. Die Häuser der Nachbarn werden von Fassbomben zerstört, ganze Familien sterben zwei Straßen weiter im Schrapnellregen. Deine Kinder weinen und schreien, sie sind kaum zu beruhigen. Du hast keine Wahl mehr. Du musst dein Zuhause verlassen, alles zurücklassen. Ob du dein Haus, deine Freunde und Bekannten jemals wiedersehen wirst?
Ein Freund eines Freundes bringt dich und deine Familie mit seinem alten Kleinbus zur Grenze, zur Grenze nach Jordanien. Die letzten Kilometer läufst du mit deiner Familie in der Dämmerung durch die Steinwüste. Die Kleinen im Arm und am Rücken. Zwei Koffer, sonst nichts. Völlig erschöpft kommt ihr mit anderen Familien an der Grenze an. Sicherheit, hoffentlich.
Jetzt lebst du dicht gedrängt mit 90.000 anderen Menschen mitten im staubigen Niemandsland. Du hast kein Geld, um dir die Miete für eine Unterkunft außerhalb dieses Lagers zu leisten. Den Goldschmuck und die Uhr deines Vaters hast du längst verkauft. Seit mehr als zwei Jahren wachsen deine Kinder zwischen Wellblechhütten, Containern und Zelten auf. Behausungen so weit das Auge reicht. Mehr als die Hälfte der BewohnerInnen hier in Zaatari sind Kinder. 1800 Kinder wurden allein im vergangen Jahr in dieser Zwischenheimat geboren. Eine Wasserleitung gibt es nicht. Vier Millionen Liter Wasser werden täglich ins Lager transportiert, sagen sie in den Nachrichten. Immerhin werden die Hauptwege in der Nacht beleuchtet, hier kann man sich recht sicher bewegen.
Zuhause in Syrien hattest du ein großes Haus, ein gutes Leben als Eisenwarenhändler. Jetzt zwei Garnituren Kleidung, vier Matratzen, einen klappernden Kühlschrank, Geschirr und einen kleinen Röhrenfernseher. Keine Bücher, keine Tische, keine Kleiderschränke, keine Bilder oder Fotos. Nur brütende Hitze unter der Plastikplane, die im Wind flattert.
Du lebst mit deiner Familie in einem Wellblechverschlag. In einem einzigen Raum. Keine Möglichkeit sich zurückzuziehen. Im Winter ist es hier eiskalt, im Sommer unerträglich heiß. Windig ist es immer. Einmal bringt der Wind die beißende Kälte durch die Ritzen, einmal feinen Sand und Staub. Aber hier gibt es wenigstens keine Bomben. Den Kindern scheint die Enge auch nichts auszumachen. Sie spielen und lachen.
Du hast dir mit den Nachbarn einen Dieselgenerator gekauft, der für ein paar Stunden am Tag Strom liefert. Energie für Bilder einer anderen Welt auf dem TV-Schirm. Das ist die einzige Abwechslung für dich und deine Liebsten. Jeden Tag spazierst du durch die Einkaufsstraße. Gehst auf die kleine Anhöhe, wo du das syrische Mobilfunknetz nutzt, um Verwandte und Bekannte in Syrien zu erreichen. Von vielen Freunden hast du seit Wochen nichts mehr gehört. Tagein, tagaus nichts zu tun. Keine Perspektive, keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Du darfst nicht legal arbeiten in diesem Land. Das Camp zu verlassen ist schwierig. Wenn du Glück hast, kannst du in paar Stunden im winzigen Laden ums Eck arbeiten. Für ein paar Dinar. Nützlich sein, ein Aufgabe haben, du genießt die Stunden im Shop neben Wassermelonen, Limonaden und Kaugummis. Du unterhälts dich mit den Menschen, lauschst amüsanten Alltagsgeschichten. Manchmal denkst du dir, dass sich die Geschichten kaum von jenen in deinem Eisenwarenladen unterscheiden.
Deine Kinder können nicht zur Schule gehen. Was soll aus ihnen werden? Ihnen bleibt das Fußball- und Versteckspiel mit den Nachbarskindern am Abend. Graslos, sandig, der Platz zwischen Hilfsorganiationslogos und der neuen Krankenhausbaustelle. Du wünschst dir, den Kindern öfter Eis kaufen zu können oder ihnen sonst eine Freude zu bereiten. Bist aber ständig ungehalten und streng, kannst die Frustration nicht länger hinunterschlucken. Nach jedem harrschen Wort zu deinen Kleinen fühlst du dich mies.
Immer wieder kommt es zu Unruhen zwischen den Camp-Bewohnern. Wenn du die Baracke verlässt, sorgst du dich um deine Familie. Der Krieg in deiner Heimat dauert nun bereits mehr als vier Jahre. Es ist kein Ende in Sicht. Sollten die Waffen dennoch eines Tages wieder verstummen, wird sich dein Land nicht so schnell erholen – weder die gepeinigten Menschen, noch die zerstörten Dörfer und Städte. Du bist trotzdem entschlossen zurück zu gehen in deine Heimat, zurück nach Syrien. Irgendwie wird es gehen.
Heute fühlt es sich an wie im Backofen. Es hat mehr als 45 Grad. Das Wasser im Tank hinter dem Haus ist knapp. Die Männer haben versucht den Tank zu kippen, um so an die letzten Wasserreste zu kommen. Die Hitze in der Wohnschachtel unerträglich. Die jordanische TV-Moderatorin sagt, ein Sandsturm wird kommen. Schon wieder. Deine kleine Tochter wird wieder weinen. Das Scheppern des Daches erinnert sie wahrscheinlich an die Helikopter. Und der Sand wird wieder überrall hineinkriechen, sich festsetzen.
Nach dem Sturm musst du mit deiner Frau aufräumen, putzen. Euer Heim, die Schlafplätze unter Blech und Planen, für die kommende Nacht säubern.
Abwechslung, immerhin.