Mehr als vier Millionen Menschen sind vor dem Bürgerkrieg in Syrien in die Nachbarländer geflohen. Mehr als 600.000 Vertriebene sind in Jordanien gelandet. Und ich war vor Ort um mit syrischen Flüchtlingen und Helfern zu sprechen.

Im Flugzeug neben mir, auf 12K, sitzt eine Libanesin. Goldene Zeder auf blauem Pass. Für die UNIDO arbeitet die zierliche Frau. In Beirut ist sie zuhause. Wien hat sie im Rahmen einer Geschäftsreise besucht. Im Flüsterton – ihre Normallautstärke, wie sich nach ein paar gehauchten Sätzen herausstellt – erzählt sie von den Flüchtlingen, die aus dem Nachbarland Syrien fortwährend in den kleinen Libanon strömen. Immer mehr und mehr Nachbarn kommen, fliehen vor Krieg und Gewalt. Viele Libanesen haben Verwandte im Bürgerkriegsland. Da ist es selbstverständlich, den Nachbarn zu helfen, erzählt die Unidofrau. Und meint es so.

Seit dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien sind mehr als vier Millionen Menschen in die Nachbarländer geflohen. Die Vereinten Nationen sprechen von der schlimmsten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Libanon – einem Land von der Größe Tirols – leben heute über eine Million syrische Flüchtlinge. Damit ist jeder zweite Einwohner ein Flüchtling. Als würde das selige Österreich vier Millionen Ungarn, Slowenen, Italiener, Deutsche aufnehmen. Das Land platzt aus allen Nähten, der Staat ist überfordert, kann seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen. Der ohnehin seit Jahrzehnten instabile Levante-Staat wankt, aber noch fällt er nicht. Doch der Krieg schwappt bereits über die Grenzen, hinter dem Libanongebirge, in der Beeka-Ebene wo die meisten Flüchtlinge hausen, wir immer öfter geschossen, gebombt und vertrieben.

Ich sitze auf 12L weil ich vor Ort mit den Vertriebenen reden will. Nicht im Libanon, sondern in Jordanien. Mehr als 600.000 registrierte Flüchtlinge leben hier. Die Regierung geht davon aus, dass sich rund 1,5 Millionen Syrer im Land befinden. Ich reise an die syrische Grenze, um mir die Geschichten jender Menschen anzuhören, die ihre Heimat verlassen mussten. Syrerinnen und Syrer, die aus Angst um ihr Leben, mit nichts als den Kleidern am Leib, ins benachbarte Jordanien flohen. Täglich lassen tausende Menschen ihr Leben zurück, um ebendieses zu retten. Wochenlang sind manche unterwegs, zu Fuß, in Bussen und Taxis. Mit den Kindern, der gebrechlichen Mutter, dem kranken Vater. Angewiesen auf die Hilfsbereitschaft von Fremden.

Ich hingegen habe Flug, Flughafentransfer und Hotel online, von zuhause aus gebucht. In 4000 Metern Höhe wetze ich in meinem Wunschsitzplatz und sehe durch meine Luke hinunter auf mir unbekannte Berge und Küsten. Im Monitor in der Rückenlehne vor mir flimmert das kleine weiße Flugzeug zuerst über das Mittelmeer, dann über Israel. Neugierig spähe ich hinaus. Dann Jordanien unter uns. Ich bin nicht gekommen, um heiße Steine in der Felsenstadt Petra zu fotografieren. Touristen-Tipps erhalte ich ungefragt dennoch: Dead Sea, dafür unbedingt Zeit nehmen, so die Empfehlung der Sitznachbarin. Der Flugzeuglärm verschluckt ihre Stimme. Schnell wird es mir zu anstrengend weiter zuzuhören, das Gespräch verebbt. Wie könnte es anders sein, hüstelt und schnupft die Gute permanent in die rote Bordmenüserviette. Dabei tippt die Frau während des gesamten Fluges wie wild in ihr Notebook. Tippt ein handschriftliches Protokoll ab. Technisches Blala. Es ist mir ein Rätsel, wie man Derartiges schreiben kann. Noch dazu in einer in einer dauerbrummenden, menschleiberbefüllten Stahlröhre. Dann endlich Landeanflug auf den königlichen Flughafen.

In Amman

Der Queen Alia International Airport verdankt seinen Namen der bei einem Hubschrauberabsturz getöteten Königin Alya Baha‘ ad-Din Tuqan, der dritten Frau Königs Husseins von Jordanien. Brandneu und in bestem Licht zeigt sich Jordaniens Knotenpunkt zur weiten Welt an diesem Abend. Schlicht schönes Betonrund in der Ruhe der jordanischen Abenddämmerung. Müde und flugzeugsitzgelähmt gelingt es mir, dem Smalltalk auszuweichen. Der mitgebrachte Geldbeitrag reduziert sich beim Wechseln in der Flughafenhalle auf lächerliche 166 Jordanische Dinar. 40 davon löhne ich beim Beamten für das Visum. Unfreundlich haut der Mann seinen Stempel in mein Reisedokument. Auf Flughäfen, egal wo auf diesem Erdrund, passiert kein Austausch zwischen Menschen. Nur klimaanlagengekühlte Formalität. Meine Versuche, die Menschen auf der anderen Seite des Schalters mit Offenheit und meinem besten Lächeln ins Land der Lebenden zurück zu holen, scheiterten bislang allesamt – auch hier im Königreich Abdullahs II herrscht Einreiseeiszeit.

Auf der Rolltreppe hinunter zur Gepäcksausgabe schallt schließlich ein erstes Willkommen aus den Lautsprechern. Das gesungene Abendgebet versetzt mich in entspannte Stimmung. Kleinbus, Flughafenautobahn, dann angekommen: Amman. Die Vier-Millionen-Stadt ziert sich, verbirgt sich in der Dunkelheit. Bevor wir im Hotel eintreffen, drängt sich lediglich das monströse Sheraton beim Vorbeifahren ins Blickfeld. Nur einen Steinwurf vom imposanten Hotelkomplex entfernt, meine Bleibe für die nächsten Tage: das Retaj.

Das Retaj liegt recht uncharmant an einer viel befahrenen Straße, neben einem kleinen Blumenladen und einem mordernen Liquorstore. Vis-a-vis Restaurants und Läden, nur erreichbar per Fußgängerbrücke über vier Spuren Autostrom. Das dreistöckige Hotel stößt erdmännchengleich einen durchdringenden, metallenen Warnpfiff aus, als ich durch die Eingangstür in die großzügige Lobby trete. Nach dem Pfiff hole ich mir an Rezeption den Schlüssel für mein Einzelzimmer. Der Thronfolger lacht von der Wand den Hotelgästen in der Lobby entgegen und sieht mir über die Schulter, als ich meine persönlichen Daten in irgendein besonders wichtiges Formular kritzle. Der Meister der Schlüssel hinter dem Tresen trägt Verband, dick und weiß an der linken Hand. Mit kochendem Wasser hat er sich verbrüht, so seine Auskunft. Mein Zimmer im ersten Stock: Hinterhofausblick, Queensize, Minibar. Statt einer Bibel im Nachtkastl, ein Gebetsteppich im Schrank.

Die Mitreisenden beschließen noch etwas essen zu gehen. Niemand hat Lust kurz vor zehn noch ein authentisch-jordanisches Lokal zu suchen. Wir landen also in einem American-Bar-Burger-Laden ums Eck. Vor dem neonschriftzugbeschilderten Restaurant stehen ein weißer Maserati und ein neuer Mustang. Katzenhaie schwimmen nervös im Wandaquarium hinter der Bar. Allerweltsspeisen in der Karte. Sandwich, Burger, Suppe, Salat und – zum Amüsement unseres Südtirolers – italieneische Spezialitäten. Während Celin Dion und Elton John aus dem Flachbildschirm singen, bestelle ich Veggieburger. Flüsterton war im Flugzeug, hier Stadionrockatmosphäre. Die Kellner sind aufmerksam, höflich und zahlreich, aber wohl keiner von ihnen Besitzer der Luxuswägen vorm Eingang. Vier Gehaltsklassen gibt es hierzulande, durchschnittlich 600 Dinar verdient Herr und Frau JordanierIn, schnappe ich beim Tischgespräch auf. Nayla sitzt mir gegenüber und beantwortet geduldig alle Fragen zur Levante. Nayla weiß Bescheid, sie kommt aus dem benachbarten Libanon. Die kleine Mitdreißigerin mit vollen, brauen Locken gehört der Minderheit der Drusen an. Jetzt lebt Nayla in Wien. „Ich vermisse nichts“, sagt sie. „Außer vielleicht manchmal die Stimmung, die entspanntere Atmosphäre – und ja hin und wieder die levantische Küche.“ Zum Broterwerb ist Nayla bei einer Stiftung angestellt, die Hilfsorganisationen mit finanziellen Zuwendungen füttert. Gemeinsam mit ihrem Chef, einem angegrauten Vorarlberger mit sportlicher Figur, ist sie nach Jordanien gekommen, um sich das Werken der Helfer und das Elend anzuschauen.

„Auf Reisen darf man keine Gelegenheit auslassen!“, die Lebensweisheit aus dem Ländle besiegelt den Barbesuch und nach Burger und Plauderei schlendere ich deshalb mit meinen sieben Begleitern richtig Bristol. Das Vier-Stern-Hotel nach der Stadt in Südengland hat eine Skybar, wie die erfahrenen Ammanbesucher der Reisegruppe wissen. Und einen Metalldetektor in der Lobby, flughafengleich. Ich lasse mich von einem bärtigen Mann abtasten – gründlicher als bei einem Hochsicherheitsspiel im Wiener Happelrund und zum dritten Mal an diesem Tag. Im marmornen Eingangsbereich geben sich zahlreiche recht beleibte Männer dem Talk hin, den man business nennt. Neugierige Blicke beiderseits. Der enge Aufzug spuckt uns im 7. Stock aus. Der Ausblick über das nächtliche Amman ist unspektakulär. Dennoch ein Blick aus dem goldenen Palast, hinunter auf das gemeine Volk. Sieben Etagen bringen die Gutgekleideten – Einheimische, wie Fremde – hier zwischen sich und die Restbürger. Die Bar ist leer, es gibt Alkohol. Die Delegation aus der Alpenrepublik lässt sich in einer Ecke in weinrot bezogene Polstermöbel sinken. Als die Liveband anfängt Liebeslieder zu dudeln verlasse ich das Etablisment und schlendere durch die kühle Nachtluft zurück in die pfeifende Unterkunft. Autos schießen vorbei, auch nächtens kehrt hier keine Ruhe ein.

In den Norden, nach Zarqa

„Hier im westlichen Teil Ammans leben die Reichen, im Osten der Stadt sammeln sich die Ärmeren“, erzählt mir Jussuf am kommenden Morgen. Nach einer kurzen Nacht im kalten Zimmer freue ich mich über die wärmende Sonne draußen vor dem Hotel. Jussuf ist unser Fahrer. Ein großer, hagerer Typ mit markanter Nase und gegerbter Haut. Klar ist: Er wohnt nicht in Westamman, nicht im langen Schatten der Hotels und Banken. „Hast du auch Familie?“, Jussufs erste Frage. Freundin ja, aber noch keine Kinder, meine rasche Antwort. Als die Worte meinen Mund verlassen, habe das Gefühl damit in Jussufs Augen kein erwachsener Mann zu sein. Aber Jussuf nickt nur und zieht an seiner Zigarette. Der ruhige Mann fährt Reisende und professionelle Gutmenschen internationaler Hilfsorganisationen umher. Jussuf ist in Amman geboren. Seine Eltern und die Verwandtschaft leben allerdings im Norden des Landes nahe der syrischen Grenze. Ob er sich Sorgen macht, dass der Bürgerkrieg im Nachbarstaat oder der IS-Wahnsinn das elterliche Dorf erreichen könnten? „In Jordanien ist es sicher. Hier ist Ruhe.“

„In Jordanien ist es sicher. Hier ist Ruhe.“

„In einer Stunde sind wir in Zarqa“, kündigt Jussuf vom Fahrersitz aus an. „Wir machen noch einen kurzen Stopp an einer Tankstelle.“ Dreijährige im Straßenverkehr. Rosenverkäufer feilschen an Ampelkreuzungen geschickt durch geöffnete Autofenster mit Kundinnen. Routine, die dem Umsatz dienlich, der Schulbildung allerdings abträglich ist. Luxemburgische Luxusautodichte, in Amman, aber kein einziges Fahrrad auf den Straßen. Endlosverkehr. Keine öffentlichen Verkehrsmittel nur ein paar gelbe Schulbusse und Taxis unterwegs.

Im Straßenverkehr sind die Menschen gleich – besser: verhalten sich gleich. Drängeln, hupen, glotzen, auch hier in der Levante. Toyota und Honda allerorts, aber auch neuste Fabrikate deutscher Edelmarken und SUVs steuern durch das Gewühl auf Ammans Seven Circles. Es geht bergauf und bergab – das San Francisco des Mittleren Ostens. Hier wird gefahren, niemand geht. Spaziert wird lediglich abends durch den Bazar. Radfahrer, Fehlanzeige. Nicht einen einzigen Jordanier oder eine einzige Jordanierin konnte ich beim todesmutigen Versuch beobachten, Ammans Autofahrer daran zu erinnern, dass man andernorts das Asphaltband tatsächlich mit unmotorisierten Verkehrsteilnehmern teilen muss. Keine Strassenmarkierung gibt hier die Empfehlung, Raum für Radelnde frei zu geben. Der Straßenrand wird genutzt bis zum letzten Zentimeter, bis die ersten Papier- und Plastikfetzen das meist staubig unbefestigte Bankett ankündigen. Doch, so erzählt der tschechische Delegierte Lukas, er kennt einen hochrangigen UN-Beamten, der allen Widrigkeiten zum Trotz täglich zur Arbeit pedaliert.

Sandsteinbraune Schachteln wachsen über die neunzehn Hügel Hügel der Jordanischen Hauptstadt. Rohbau oftmals, unverputzt, Wassertank und Satschüssel am Flachdach. Grün ist Amman nicht. Nur vereinzelt sprießt es zwischen Häuserschachteln und zwischen Plastikfetzen am Straßenrand. Kamele weiden zwischen Fahrstreifen schnurgerader Straßen Richtung Norden, Richtung Syrien. Beduinenzelte immer wieder mitten in der kargen Weite. Ziegengeführte Schafherden ziehen über die karge Ebene. Knabbern an seltengrünem Gras und dürren Gestrüpp.

Wir halten wie angekündigt an der Tankstelle. „Alle legen hier einen Zwischenstopp ein“, erzählt unsere jordanische Begleiterin. Alle meint: Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Helfer aus aller Welt treffen sich beim Snackkauf auf halber Strecke zwischen Amman und Zarqa. Also bekomme auch ich die Gelegenheit Tankstellenautomatenkaffee mit Kolleginnen und Kollegen zu nippen. Flaschenwasser kaufen mit einsatzbewesteten Profi-Helfern. Ich wundere mich über die große Auswahl an Loaker-Schnitten und kaufe mit einem der kleineren Scheine mit königlichem Konterfei einen Sack Nüsse. Der Tankstellenshop als Rückzugsort in eine gewohnte Umgebung, Jordanien bleibt draußen. Schnell verlasse ich das Refugium, ich will hinaus, genieße die Sonne, die in Jordanien auch Mitte April schon recht kräftig wärm, auf meiner büroblassen Haut.

Farhan, der Glückliche

Nach ein paar Minuten Fahrt springe ich wieder raus aus dem Kleinbus. Wir besuchen eine Grundschule und ein Sozialzentrum in Zarqa, einer 400.000 Einwohner-Stadt 20 Kilometer nördlich der Hauptstadt. Es ist Vormittag als wir das Schulgelände betreten. Das heißt, jetzt sind die jordanischen Kinder da. In blauen Schuluniformen toben sie auf dem asphaltierten Schulhof herum und posieren für die kameraschwingenden Besucher. „Whats your name? Whats your name?“ Stefan. Händeschütteln, Kinderlachen.

Einer der Schüler ist Farhan. „Das bedeutet der Glückliche“, erzählt mir eine Mitarbeiterin des Zentrums. Farhan, ist 12 und will später Polizist werden. Warum, frage ich ihn. „Weil ich meine Heimat verteidigen will“, sagt er ohne zu zögern. Die Zeichnung, die vor ihm liegt zeigt zwei Panzer. Ein Rebellenpanzer, ein Regimepanzer. Auf dem Panzer sitzt ein Mann, der von Schüssen getroffen wird, filzstiftrotes Blut spritzt aus seiner Brust. In Farhans Alter habe ich Blumen, Autos und meinen Vater beim Einkaufen gezeichnet. Verteidigen wollte ich nichts. Außer vielleicht das Recht, so lange aufbleiben zu dürfen, um den Kurzsport nach den Nachrichten sehen zu können.

„Ich will später Polizist werden, weil ich meine Heimat verteidigen will.“

Farhan zeichnet die Bilder, die er nicht mehr aus seinem Kopf bekommt. Der schüchterne 12-Jährige musste mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern vor dem Bürgerkrieg in seiner Heimat Syrien nach Jordanien fliehen. Heute lebt er wie weitere 40.000 Flüchtlinge hier in Zarqa. Mehr als die Hälfte der Geflohenen sind Kinder. Kinder wie Farhan, die im Krieg und auf der Flucht Schreckliches erlebt haben. Manche machen im Alter von zehn Jahren wieder ins Bett. Andere haben Albträume. Viele haben aufgestaute Aggressionen, streiten ständig oder ziehen sich vollkommen in sich zurück. Die meisten Flüchtlingskinder haben keinen Zugang zu Bildung oder Schule. Eine ganze Generation wächst heran, ohne die Chance auf Sicherheit und ohne Zukunftsperspektiven. Insgesamt leben heute hunderttausende syrische Kinder im schulfähigen Alter in Jordanien – knapp die Hälfte dieser Kinder besucht keine Schule.

Die Flüchtlingskinder haben Schwierigkeiten, in das formelle Schulsystem eingegliedert zu werden. Viele haben Monate oder Jahre keine Schule besucht, die Lücken sind groß. Auch Farhan war zwei Jahre nicht in der Schule. Jetzt drückt er wieder die Schulbank und versucht, in einer Nachholklasse versäumten Stoff aufzuholen. Wenn die jordanischen SchülerInnen am frühen Nachmittag nach Hause gehen, geht es für Farhan und die syrischen Kinder erst los. Doch obwohl die Schulen am Nachmittag eine zweite Schicht für die Flüchtlingskinder bieten, fehlt es an freien Plätzen. In Zarqa ermöglicht die Caritas Nachholunterricht, damit sie verpassten Lernstoff aufholen und die Schule erfolgreich abschließen können. „Mathematik ist mein Lieblingsfach“, erzählt Farhan stolz.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie es Farhan geht, habe keine Ahnung, wie es in ihm aussieht. Und ich komme mir schäbig vor, als ich ihn bitte, für ein Foto seine Zeichnung in die Linse zu halten. Als ich zum letzten Mal den Auslöser drücke, schenkt mir Farhan ein Lächeln und ein Peace-Zeichen. Für eine Sekunde blitzt in seinem schmalen Gesicht Freude auf.

Hier im Zentrum lernen Mütter ihre eigenen Kinder wieder zu verstehen, mit ihren traumatisierten Töchtern und Söhnen umzugehen. Viele Kinder haben ihre Stimme verloren, sie sprechen nicht mehr oder sind aggressiv. Zuviel haben sie auf der Flucht und im Krieg gesehen, gehört und erlebt. Hier stehen Mitarbeiterinnnen und Psychologen zur Seite und geben wichtige Unterstützung.

Zuhörer in Weiß

Der Doktor des Zentrums strahlt die Gelassenheit eines Mannes aus, der alles gesehen hat. Eines Mannes, der nicht mehr immerzu bewerten muss, nicht bewerten darf, sonst hätte er längst den Weißkittel abgelegt. Erst verstört mich diese Gelassenheit. Wohl weil ich sie als Gleichgültigkeit auffasse. Wieder ein ignoranter Mediziner. Einer von der Sorte, der meinen hustengeplagten, herzkranken Großvater beim zweiminütigen Hausbesuch nicht frägt, wie es ihm geht, ihn nicht einmal berührt. Ferndiagnose von Angesicht zu Angesicht. Arztverdrossen setze ich mich auf den Patientenstuhl vor dem wuchtigen Schreibtisch und stelle eine hirnlose Frage nach den täglichen Herausforderungen. Der Mann lächelt, sieht mich lange an und antwortet: „Zuhören ist der halbe Weg zur Besserung. Jeder Patient bringt seine Leidensgeschichte, seine Lebensgeschichte, mit in den kleinen Untersuchungsraum. Und lässt etwas da. Die Flüchtlinge haben Unsägliches erlebt“, schildert der Arzt. Mir wird klar: hier werkt kein kalter Mediziner. Verprügelte, Getretene, Zigarettenverbrannte, Aufgeschnittene, Verstümmelte, Erniedrigte, Vergewaltigte, Gefühllose, Verstummte, Wütende, Todesängstliche. Sie alle sitzen jeden Tag dort wo ich sitze. Mehr als 30 von morgens bis abends.

„Zuhören ist der halbe Weg zur Besserung.“

„Giving dignity to patients. No numbers, all humans.“ Zuhören, beistehen, aufbauen, heilen. Das medizinische Handwerk, das der Doktor vor Jahrzehnten in Spanien erlernt hat, gibt es als Nebenwirkung obendrauf. Früher war er beim Staat angestellt, hat auch im staatlichen Krankenhaus ordiniert, aber hier ist er angekommen, hier kann er helfen, erzählt er. „Wenn ich abends das Stethoskop in die Schreibtischlade lege und heimfahre zu meiner Frau, versuche ich abzuschalten, auszublenden.“ Meist gelingt es und die Schicksale bleiben hier im Zentrum zwischen den Plastikstühlen am Gang, der sterilweißen Liege und den Medikamentenschränken. Meist.

Mariam, die Großherzige

„Das ist Mariam“, stellt der Doktor das zierliche Mädchen vor, das während unseres Gesprächs den Raum betreten hat. Mariam ist Sozialarbeiterin hier im Zentrum. Sie trägt Sneaker, lackiert ihre langen Fingernägel grellpink, trägt großzügig Make-up und Riesenohrringe. „Wenn ich zuhause esse, denke ich an die Väter, die hier bei uns Hilfe suchen, weil sie nicht wissen, wie ihre Kinder versorgen sollen“, erzählt sie mit feuchten Augen. „Ich kann es kaum ertragen, wenn verzweifelte Familienväter berichten, dass sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Es bricht mir das Herz, wenn ich Menschen vertrösten oder wegschicken muss, weil es nicht mehr Mittel gibt. Ich wünsche mir nur, dass die Unterstützung für unsere Arbeit nicht endet. Es ist das schönste Gefühl, wenn diese Väter dann wieder kommen, um Danke zu sagen, weil das Baby nun endlich nicht mehr vor Hunger weinen muss. Trotz aller Not ist jeder Tag ein guter Tag – solange ich helfen kann! You need to give more, you know.“ Die 27-jährige zögert auch nicht, ihre eigene Familie und Freunde um Hilfe zu bitten, um syrische Flüchtlingsfamilien zu versorgen. Damit ist sie nicht alleine, auch ihre Kolleginnen im Zentrum setzen alle Hebel in Bewegung um zu helfen.

„Ich kann es kaum ertragen, wenn verzweifelte Familienväter berichten, dass sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen.“

Wie viele andere hier kann sie sich noch genau an ihre ersten Fälle erinnern. Sie wollte schon immer in der Gemeinde helfen. „Dabei fühle ich mich ganz“, erzählt sie. Die Übersetzung bräuchte ich gar nicht. Ich nicke ihr nur zu und glotze in ihre glänzenden Augen. Unmaskiert sitzt sie da, die Mutige. Hier kann man keine Masken tragen. Demaskierend sind die Schicksale, die hier durch die Tür kommen. Sie nickt zurück. Ich fühle mich Mariam verbunden, habe das Gefühl, ihr mit meinem Zuspruch ein wenig Last abzunehmen. An diesem Montag in Zarqa treffe ich eine beeindruckende junge Frau. Ihre Offenherzigkeit ist entwaffnend.
Die tapfere Mariam hat keine Scheu, das Wort zu ergreifen. auch der Arzt hinter dem Schreibtisch weiß das. Bewunderung und Respekt auch vom Kollegen in Weiß. Mariam will weiter erzählen. Sie schildert, wie ein Vater seine Kinder misshandelt. Er knüpfte die Kleinen zur Strafe am Deckenventilator auf, vergewaltigte und misshandelte seine Frau. Nur mit Hilfe ihrer Kolleginnen konnte die Frau mit ihren Kindern aus dieser Hölle mittlerweile entkommen.

An ihrem Schreibtisch will sich Mariam fotografieren lassen. An ihrem Arbeitsplatz, ihrer Wirkstätte. Ich denke mir: Wer Mariam hier gegenüber sitzt ist gerettet, hat ein Herz gefunden, das sich kümmert, das sich annimmt. Hinter dem Sucher meines Fotoapparates kann ich mich kurz verstecken. Mariam will ein Foto machen mit mir. Ich schaffe es nicht, ihr zu sagen, dass ich sie bewundere, dass ich gerührt bin von ihrem Großmut. Sie legt ihren dünnen Arm um mich. Zwei Köpfe größer, stehe ich neben einer Riesin und bin froh auch ein bisschen gerettet worden zu sein.